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Der Name des ukrainischen Kleinstädtchens Tschernobyl mit 12.000 Einwohner/innen war vor 1986 nicht sehr bekannt. Die Bezeichnung ist heute Synonym für die bisher größte Katastrophe in der zivilen Nutzung der KernenergieDas Unglück ist eines der folgenreichsten in der Industriegeschichte.


Wichtige Zahlen im Überblick

 ReaktortypLeistung
(MW elektrisch)
FertigstellungBetrieben bis
Block 1 RBMK-1000 1.000 Netzsynchronisation
1978
1996
Block 2 RBMK-1000 1.000 Netzsynchronisation
1979
1991
Block 3 RBMK-1000 1.000 Netzsynchronisation
1982
Dezember 2000
Block 4 RBMK-1000 1.000 Netzsynchronisation
1984
26.04.1986
Block 5 RBMK-1500 1.000 Niemals fertiggestellt,
1986 eingemottet
Nie
Block 6 RBMK-1500 1.000 Niemals fertiggestellt,
1986 eingemottet
Nie
  • Entfernung von der Stadt Wien (Luftlinie): 900 Kilometer
  • Anteil der Anlage an der Stromerzeugung in der Ukraine (2003): Null Prozent
  • Anteil der Stromerzeugung aus Kernenergie in der Ukraine (ohne KKW Tschernobyl): Zirka 45 Prozent (2001) mit steigender Tendenz
  • Jahresstromerzeugung der fertiggestellten Anlagen vor 1986: Zirka 25 Milliarden Kilowattstunden pro Jahr (KWh/a)

 


Schwere Stör- und Zwischenfälle

Die Katastrophe im Kernkraftwerk (KKW) Tschernobyl von 1986 ist unvergleichbar. Mehr als einmal wurde das KKW von einem schweren Ereignis heimgesucht. Zu den schwerwiegendsten Unfällen zählen folgende Ereignisse:

  • Am 1. September 1982 wird das zentrale Brennelement von Block eins durch Überhitzung zerstört. Zu dieser Zeit war der Katastrophenblock vier noch in Bau. Der Unfall geht auf einen Bedienungsfehler des Betriebspersonals zurück. Erhebliche radioaktive Freisetzungen waren die Folge. Radioaktive Gase wie Jod, Krypton und Xenon sowie leicht flüchtige Stoffe wie Tellur und Cäsium entwichen in die Umwelt. Sie zogen über das Kraftwerksgelände, das angrenzende Industriegebiet und Teile der Stadt Pripjat. Während der Beseitigung des Schadens (der zerstörte Brennstoffkanal musste ersetzt werden) setzten sich die Techniker/innen unzulässig hohen Strahlendosen aus.
  • In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 ereignet sich in Block vier die bisher schwerste Nuklearkatastrophe in der zivilen Geschichte der Kernenergienutzung. Bei einem Sicherheitsexperiment wird ein Großteil der Sicherheitssysteme abgeschaltet. Das Personal verliert die Kontrolle über den Reaktor. Es kommt zu einer prompten Kritikalität. Mehrere dicht aufeinander folgende Dampfexplosionen zerstören den Reaktor und das Gebäude fast vollständig. Die Graphitblöcke, die bei diesem Reaktortyp als Moderatoren dienen, sind unter bestimmten Bedingungen brennbar. Sie führten zu einer starken Feuerentwicklung. Fast alle leicht flüchtigen radioaktiven Bestandteile (vor allem Jod, Tellur, Tritium und Cäsium) und ein großer Teil der festen radioaktiven Bestandteile (Strontium, Kobalt, Plutonium unter anderem), wurden in die Umwelt freigesetzt. Es handelte sich um eine Gesamtaktivität von etwa 300 Millionen Curie. Bei den unmittelbaren Schadensbegrenzungsmaßnahmen starben 28 Menschen durch Verbrennungen und Strahlenschädigung. Weitere drei starben kurz darauf. Eine Sperrzone mit einem Radius von 30 Kilometer um das Kraftwerk wurde in den Tagen nach der Katastrophe aufgrund radioaktiver Verseuchung evakuiert. Bisher wurde diese nicht wieder besiedelt.
    Bei den Katastrophenschutzmaßnahmen und den großflächigen Entseuchungsaktionen wirkten mehr als 600.000 Liquidator/innen zusammen. Viele der Liquidator/innen und Spezialist/innen wurden eingeflogen, um - aufgrund der hohen Strahlung - nur wenige Minuten am Ort der Katastrophe zu arbeiten. Manche von ihnen erlitten trotzdem Schädigungen durch zu hohe absorbierte Dosen. Zu den Beeinträchtigungen zählen Symptome der Strahlenkrankheit bis hin zum unmittelbaren Tod, Krebs, strahlenbedingte Depressionen, Entwicklung von Allergien und Schäden am Erbgut. In den Monaten Mai bis Oktober 1986 wurde ein künstlicher Einschluss mit der Bezeichnung Sarkophag um den havarierten (zerstörten) Reaktor errichtet. Der Sarkophag besteht aus 250.000 Tonnen Beton, Blei und Stahl. Er soll eine weitere Vertragung radioaktiver Stoffe aus dem Reaktor verhindern. Große Teile Weißrusslands, der Ukraine und Russlands wurden mit radioaktiven Niederschlägen kontaminiert (verseucht). Die Umsiedlungen betrafen mehrere 100.000 Menschen. In Gebieten mit deutlich erhöhter Strahlung leben heute zirka fünf Millionen Menschen. Die Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen in den besonders belasteten Gebieten stieg teilweise um das mehr als 100-fache. Bisher (Stand: 2003) entwickelten etwa 1.000 Kinder Schilddrüsenkarzinome, die auf Tschernobyl zurückzuführen sind. Bei den anderen Krebsarten lassen sich keine statistischen Häufungen nachweisen. Wie sich die langzeitliche Akkumulation dieser Dosis auf die Gesundheit der Bevölkerung, das psychische Wohlbefinden und das Auftreten von Erbkrankheiten auswirkt, ist nicht bekannt. Nur in wenigen Fällen lässt sich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Tschernobyl und einer Erkrankung feststellen, selbst wenn dieser Zusammenhang gegeben ist. Die medizinischen Vergleichsstudien werden durch zusätzliche Faktoren erschwert. Dazu zählt die schlechtere Versorgungssituation in der Ukraine nach dem Ende der Sowjetunion. Weitere Faktoren sind die veränderte Lebensweise oder mangelnde Zukunftsperspektiven bei sozialer Unsicherheit.
  • Im Herbst 1991 kam es in Block 2 zu einem schweren Brand im Maschinenhaus. Das Dach stürzte teilweise ein. Einer der beiden Generatoren wurde stark beschädigt. Nach Kostenabschätzungen für die notwendigen Reparaturen wurde der Block nicht wieder rekonstruiert. In Block 2 bestand darüber hinaus ein Leck im Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente. Es wird vermutet, dass durch diesen Schaden auch kleinere Mengen an Radionukliden in die Umwelt austraten.

Standortbeschreibung

Lage und Umgebung

Das Kernkraftwerk (KKW) liegt zirka 120 Kilometer nordwestlich von Kiew in der Ukraine. Es befindet sich fast direkt an der Grenze zu Weißrussland. Die Luftlinie nach Wien beträgt weniger als 1.000 Kilometer in nordöstlicher Richtung. Die Region ist bedeckt mit ausgedehnten Wäldern. Sie gilt als artenreiches Biotop der Ukraine. Es gibt zahlreiche Wasserläufe und Zuflüsse zum Dnjepr. Neben dem ehemaligen Kernkraftwerk erstreckt sich ein künstlich aufgestauter See. Hauptsächlich diente es als Kühlwasserreservoir für das Werk. Vor 1986 war er Teil eines beliebten Naherholungsortes.

Zirka 15 Kilometer von der Kleinstadt Tschernobyl entfernt wurde 1966 die Stadt Pripjat errichtet. Sie war Wohnort für Arbeiter/innen und Angestellte des Kraftwerks. Pripjat ist vergleichbar mit anderen zivilen Atomstädten der Sowjetunion, wie Kurtschatow oder Desnogorsk. Wenige Kilometer von Pripjat entfernt lag der Bauplatz für den Nuklearkomplex "Tschernobylskaja Atomnaja Elektro Stanzia - Atomkraftwerk Tschernobyl". Dieser ist nach dem Begründer der Sowjetunion, Wladimir Iljitsch Lenin, benannt.

Standort

Der Standort eignete sich für ein Großkraftwerk wegen der Möglichkeit, einen Kühlsee anzulegen. Zudem war an die Belieferung mit Strom für die Hauptstadt Kiew und einem Umkreis von einigen hundert Kilometern gedacht. In den 70er Jahren entstanden zwei RBMK-1000 Blöcke. Sie galten als erste Baustufe der ersten Generation dieser Type auf der Grundlage des Prototyps Leningrad eins und zwei. Direkt angrenzend wurde ein modernerer Typ dieser Reaktorbaulinie für die zweite Baustufe des KKW Tschernobyl gewählt. Block drei und vier wurden 1982 und 1984 in Betrieb genommen. Das Kraftwerk ähnelte damit anderen russischen RBMK-Anlagen wie Leningrad (Sosnowi Bor), Kursk oder dem ursprünglichen Konzept des KKW Smolensk.


Kritikpunkte und Position der Wiener Umweltanwaltschaft

Kritikpunkte

Die Sicherheitsprobleme wurden vom ukrainischen Komitee für staatliche Sicherheit (KGB) in der Bauphase vor 1979 dokumentiert. Unter anderem wurden sie auf mangelnde Qualität jugoslawischer Zulieferer zurückgeführt. Die Sicherheitsprobleme insgesamt lagen vor allem in folgenden Bereichen:

  • In der Siedewassertechnik wurde in Ost und West in der Regel auf ein Containment verzichtet. Der gewaltige Reaktorblock eines RBMK war nur durch eine hermetische Zone aus Schwerbeton, das biologische Schild und eine dünne Stahlhülle gegenüber der Umwelt abgeschirmt. Das obere Ende der fast 1.700 Brennstoffkanäle war ständig erreichbar. Eine Beladung während des Betriebs war vorgesehen.
  • Das Kühlmedium Wasser wurde nicht gleichzeitig auch als Neutronenmoderator verwendet. Dies ist in den meisten KKW üblich. Die Kernspaltung lief auch nach Kühlmittelverlust weiter. Diese Eigenschaft in Kombination mit groben Handhabungsfehlern führte mit zur Reaktorkatastrophe.
  • Beim RBMK handelte es sich um einen Siedewassertyp. Derselbe Wasserkreislauf, der durch den Reaktor führt, durchströmt als Dampf auch die Turbinen. Damit gehört das Maschinenhaus zu einem radiologisch kritischen Bereich. Es existierten zwei getrennte Kreisläufe. Jede Turbine versorgte eine Reaktorhälfte. Die Systeme arbeiteten getrennt.
  • Da die RBMK-Blöcke drei und vier wie üblich für Blöcke der zweiten Generation als Zwillingsanlage gebaut wurden, verfügten sie zusammen über nur ein technisches Zwischengebäude. Risikoreiche Wechselwirkungen zu anderen intakten Blöcken können entstehen. Damals floss unter anderem radioaktives Kühlwasser mit Brennstofffragmenten in den Kellergeschoßen zu den anderen Blöcken. Dieses gefährdete vor allem elektrische Steuer- und Leistungskabel. In diesem Sinne ist auch die räumliche Nähe von Zwillingsblöcken problematisch.
  • Im letzten Rohrabschnitt wurden die Brennstoffkanäle separat mit Kühlwasser beschickt. Dies führte zu der gewaltigen Anzahl von Tausenden Druckröhren mit Zehntausenden Schweißnähten. Eine entsprechende Anfälligkeit für Leckagen war gegeben. Reißt eine untere Verbindung eines Brennstoffkanals ab, werden die beiden Brennelemente im Kanal nicht mehr gekühlt. Es kommt zu einer lokalen Kernschmelze mit möglicher Freisetzung von Radioaktivität in den Zentralsaal. Diese wird zwar durch Filteranlagen zum Teil zurückgehalten. Sie gelangt aber über den Abluftschornstein in die Umwelt. In der Vergangenheit passierten lokale Kernschmelzen in verschiedenen RBMK-Blöcken, unter anderem in Tschernobyl eins und in Sosnowi Bor (Leningrad). In letzterem wurden 1,5 Millionen Curie an Aktivität an die Umwelt abgegeben. Das entspricht etwa 0,5 Prozent der Freisetzung des Unglücks von Tschernobyl 1986.
  • Aufgrund der geringen Anreicherung und der anderen Moderationseigenschaften von Graphit gegenüber Wasser ist das Kerninventar (Uranmenge aus U235 und U238) mit fast 200 Tonnen pro Block weit größer als bei einem leistungsmäßig vergleichbaren Druckwasserreaktor. Im Falle einer Kernzerstörung ist die Menge an radioaktiven Stoffen etwa um denselben Faktor höher.

Position der Wiener Umweltanwaltschaft

Unverzüglich sollte auf eine Substitution aller RBMK-Reaktoren hingearbeitet werden. Die konstruktiven Sicherheitsmängel dieses Anlagentyps sind auch durch Nachrüstungen zum Teil nicht zu korrigieren. Auch im Normalbetrieb setzt ein RBMK etwa 40 Mal soviel Radionuklide über Wasser und Abluft in die Umwelt frei wie ein moderner Druckwasserreaktor (Vergleichsdaten etwa vom Temelintyp WWER-1000/320).

Aufgrund der sehr schwierigen wirtschaftlichen Lage in der Ukraine sind zahlreiche Großanlagen in einem verhältnismäßig schlechten Zustand. Unter ihnen befinden sich die 13 betriebenen Kernreaktoren. Die Ukraine erzeugt fast 50 Prozent ihres Stroms aus Kernenergie. Sie exportiert auch in westliche Länder.

Österreich hat 1992 einen Vertrag zur Strombeziehung aus der Ukraine abgeschlossen. Es ist nicht bekannt, ob dieser noch besteht. Die Wiener Umweltanwaltschaft lehnt einen solchen Vertrag ab. Eine nuklearkritische Haltung kann nicht glaubhaft vertreten werden, wenn gleichzeitig an relativ riskanten Projekten aus diesem Bereich partizipiert wird. Bereits innerhalb der Sowjetunion wurde ukrainischen Stellen ein ungenauer Umgang in verschiedenen Bereichen vorgeworfen.

Das Pro-Kopf-Einkommen in der Ukraine ist nur halb so hoch wie in Russland. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind für eine sichere Kernenergienutzung denkbar schlecht. Auf der anderen Seite sind die Alternativen durch Kohlekraft aus dem Donezkbecken nicht viel besser. Erneuerbare Energien sind aus Kostensicht in weiter Ferne. Als warnendes Beispiel kann ein Fall von Betriebssabotage erwähnt werden: Ein Techniker des KKW Juschnoukrainsk (Südukraine) musste monatelang auf sein Gehalt warten. Er führte bewusst die Notabschaltung aller drei Blöcke (vom Typ WWER-1000) herbei.

Gegenwärtig findet der SIP (Shelter Implementation Plan) große Beachtung. Dabei geht es um die Errichtung eines neuen Sarkophags um den havarierten Block. Nach Ansicht der Wiener Umweltanwaltschaft sollte dringend überprüft werden, ob dieses sehr kostspielige Programm notwendig ist. Sein Aufwand wird auf zirka 750 Millionen Euro geschätzt. Alternative Maßnahmen sollten gesucht werden. Das Bauvorhaben würde möglicherweise zahlreiche Mitarbeiter/innen von Konstruktionsfirmen und der Baustelle unnötiger Bestrahlung aussetzen. Es würde Gelder verschlingen, die anderswo weit mehr benötigt werden. Erfolgreiches Risikomanagement liegt nicht in der "Umbettung von Toten". Es konzentriert sich auf bestehende Risiken und Gefahren. Der Sarkophag ist kein optimaler Einschluss des havarierten (zerstörten) Reaktors. Er wurde unter unmenschlichem Zeitdruck und in hohen Strahlenfeldern errichtet. Das heraufbeschworene Szenario eines "erneuten Tschernobyl" durch einen Einsturz des Sarkophags ist aber weit übertrieben. Es schürt Ängste, um Gelder zu rekrutieren. Der Shelter Implementation Plan wurde besonders von großen europäischen Baukonzernen zusammen mit ukrainischen Ministerienvertretern entwickelt. Er ist in entsprechenden Gremien (wie IAEA, EBRD, G7) lobbyiert.

 


Standpunkt der Europäischen Union

Durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl waren auch große Teile Westeuropas von radioaktivem Niederschlag betroffen.

Die EU beteiligte sich an den Aufräumarbeiten und wissenschaftlichen Begleitprogrammen zur Untersuchung der Katastrophe. Sie versuchte unter gegebenen Rahmenbedingungen ein möglichst rasches Abschalten der nach 1986 noch dort betriebenen Reaktoren zu erwirken. Außer den Blöcken in Tschernobyl befanden sich keine RBMK-Reaktoren im ukrainischen Kraftwerkspark.

BedeutendenAkteur/innen der Ukraine wurde bewusst, wie wichtig Europa die Stilllegung der drei verbleibenden Tschernobyl-Reaktoren war. Der Preis wurde durch ukrainische Interessen so hoch wie möglich gehalten. Erst am 7.12.2000 erfolgte die Garantie zur unmittelbaren Stilllegung des letzten Blocks, Nummer drei. Diese Garantie war mit einem Kredit in Höhe von 215 Millionen Dollar der EBRD (Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung) verknüpft. Damit sollten zwei KKW-Druckwasserblöcke in den ukrainischen Kraftwerken Rowno und Chmelnizki fertig gestellt werden. Das Gesamtprojekt zur Ersetzung der Tschernobylkapazitäten in der nördlichen Ukraine betrug zirka 1,48 Milliarden Dollar. Davon brachte EURATOM (Europäische Atomgemeinschaft) 585 Millionen, die russische Regierung 123,7 Millionen, der ukrainische staatliche Anlagenbetreiber ENERGOATOM 158,6 Millionen und die ukrainische Regierung 50 Millionen Dollar auf. Der Rest der Summe wurde durch Exportverträge gedeckt. Die EU befand sich in einem Dilemma. Eine rasche Stilllegung sollte erwirkt werden. Andererseits sollten die Zugeständnisse an die Ukraine gering gehalten werden. Der Unfall von Tschernobyl wird von der Ukraine immer wieder als Möglichkeit betrachtet, international auf Mittelsuche zu gehen. Die allerwenigsten Gelder kommen aber dort an, wo sie wirklich benötigt werden. So hat sich über die Jahre eine umfangreiche Schattenwirtschaft aus inländischen und ausländischen Firmen und ukrainischen Ministerien gebildet. Sie versteht, mit dem Wort Tschernobyl zu hausieren. Ohne Zweifel liegt der gesamtwirtschaftliche Schaden durch den Kraftwerksunfall in der Dimension des Bruttoinlandprodukts eines ganzen Landes. Möglicherweise beschleunigte die dramatische Kostenentwicklung auch das Ende der Sowjetunion.

 


Zahlen und Fakten

Das Kraftwerk

Die gemeinsame Turbinenhalle der vier Blöcke von Tschernobyl hat eine Länge von fast 800 Meter. Für jeden Block waren zwei Turbogeneratoren installiert. Die Gesamtleistung der Anlage war etwa 4.000 Megawatt elektrisch (MWel) bei etwa 12.800 Megawatt thermisch (MWth). Zwei weitere Blöcke gleicher Größe wurden ab 1981 etwas südlich des restlichen Nuklearkomplexes errichtet. Block fünf sollte im Herbst 1986 seinen Probebetrieb aufnehmen. Block sechs war zirka zur Hälfte vollendet. An beiden Blöcken wurde auch nach der Reaktorkatastrophe in Block vier weitergearbeitet. Danach ließ die radiologische Situation dies nicht mehr zu. In der Folge wurden die Anlagen mit einem roten Schutzanstrich versehen. Damit sollten sie gegen Wettereinflüsse und Alterung konserviert werden. Zu einem späteren Zeitpunkt sollten sie fertig gestellt werden. Als die Radioaktivität auf ein niedrigeres Niveau abgesunken war, erschien eine Wiederaufnahme der Bauarbeiten unter den geänderten politischen Rahmenbedingungen ausgeschlossen. Die selbständig gewordene Ukraine hatte weder die finanziellen Mittel noch den gesellschaftlichen Willen für die Fertigstellung von Block fünf und sechs.

Technische Spezifikation

Die beiden älteren Reaktorblöcke eins und zwei gehörten zur ersten Generation von RBMK-1000 Blöcken. Die energetische Auslegung war mit denen der Blöcke drei und vier vergleichbar. Die Sicherheitssysteme und Hilfsanlagen bei den beiden neueren Blöcken aus der zweiten RBMK-1000-Generation waren umfangreicher ausgelegt und besser optimiert. Diese Verbesserungen konnten die Reaktorkatastrophe von Block vier nicht verhindern.

Die Abkürzung RBMK steht im Russischen für "Druckröhrenreaktor großer Leistung". Der RBMK-1000 ist ein graphitmoderierter, leichtwassergekühlter Druckröhrenreaktor. Er ähnelt in seiner Funktionsweise einem Siedewassersektor. Im Unterschied zu diesem verwendet er aber sein Kühlwasser nicht gleichzeitig als Moderator für die Neutronen. Er besteht aus einer Anordnung von Graphitblöcken, die diese Aufgabe übernehmen.

Die Reaktoren von Tschernobyl bestanden aus je 1.700 Tonnen aufeinander geschichteter Graphitblöcke. Sie hatten die Form eines stehenden Zylinders. Sie waren zirka sieben Meter hoch. Ihr Durchmesser war 11,8 Meter. Die Graphitmatrix enthielt knapp 2.000 vertikale Bohrungen. In ihnen steckten die Brennelemente, die Absorber- und Messstäbe in eigenen Druckröhren. In jedem Brennstoffkanal standen zwei Brennelemente übereinander. Der Brennelementwechsel konnte während des Reaktorbetriebs vorgenommen werden. Dies minimierte die Standzeiten der Reaktoren. Für den Wechsel stand eine aufwändige Lademaschine im Zentralsaal über dem Reaktor zur Verfügung. Sie koppelte sich an den entsprechenden Brennstoffkanal an. Unter Reaktorbetriebsdruck sowie einem ständigen Kühlkreislauf zog sie die beiden alten Brennelemente aus ihrem Kanal und ersetzte sie durch neue.

Die thermische Produktion jeder der vier Tschernobylblöcke betrug etwa 3.200 MW. Pro Block existierten zwei getrennte Kühlkreisläufe mit je vier Hauptumwälzpumpen (HUP). Sie speisten jeweils eine Reaktorhälfte. Die Verteilung des Kühlwassers erfolgte über große Hauptkollektoren. Sie gelangte mittels Zuleitungen unterhalb des Reaktors zu den einzelnen Kanälen. Oberhalb der aktiven Zone zweigten die Verbindungen mit dem erhitzten Wasserdampfgemisch horizontal aus und führten zum Wasserabscheider. Fünf Dampfleitungen führten zu den jeweils zwei Turbinen pro Reaktorblock. Das abgetrennte Wasser wurde wieder den HUP zugeführt. Jeder Turbogenerator leistete 500 MWel. Die insgesamt acht Turbogeneratoren für alle vier Blöcke waren im Maschinenhaus untergebracht und lagen quer zu den Reaktoren.


Sicherheitssysteme

Die Sicherheitssysteme des Reaktortyps RBMK-1000 wurden nach der Katastrophe von Tschernobyl in allen noch bestehenden Anlagen verbessert. RBMK-Blöcke weisen jedoch prinzipielle gravierende Konstruktionsmängel auf. Deshalb haben die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten nach dem Unglück von Tschernobyl einen Aufschub für den Bau von RBMK-Blöcken verhängt. Sicherheitseinrichtungen und positive Reaktoreigenschaften waren:

  • Die RBMK hatten eine geringe Leistungsdichte und eine große Wärmekapazität aufgrund großer Masse in der aktiven Zone.
  • Für Blöcke der ersten RBMK-Generation waren 191 Steuer- und Regelstäbe vorgesehen. In der zweiten Generation kamen 20 hinzu. Vor den deutlichen Verbesserungsmaßnahmen bei allen bestehenden Anlagen waren die Regelsysteme nach der Katastrophe für die großen Reaktorabmessungen zu langsam. Die Einfahrgeschwindigkeit der Stäbe betrug maximal 0,4 Meter pro Sekunde. Die Einfahrzeit der völlig entfernten Stäbe betrug knapp 20 Sekunden. Heute sind es zwölf Sekunden. Die Schnellabschaltstäbe fielen innerhalb von zwei bis zweieinhalb beziehungsweise sieben Sekunden.
  • Die Regelstäbe konnten notfalls auch durch die Schwerkraft und ohne elektrische Energie eingefahren werden. Dies unterschied den RBMK von anderen Siedewasserreaktoren.
  • Mit den Notkühleinrichtungen konnte der Abriss der größten Kühlmittelleitung überspeist werden (Auslegungsstörfall). Für die beiden neueren Blöcke standen pro Reaktor drei mal zwei Notkühlpumpen für die beschädigte Kernhälfte und drei mal eine Pumpe für die unbeschädigte Reaktorhälfte zur Verfügung. Dies entspricht einer Kapazität von drei mal 50 Prozent bei 250 Tonnen Förderleistung pro Pumpe und Stunde. Die älteren beiden Einheiten besaßen überhaupt keine Notkühlpumpen. Sie kamen erst bei der zweiten Generation konstruktiv zur Ausführung.
  • Alle vier Blöcke waren mit je drei Notspeisewasserpumpen ausgerüstet. Die Auslegung war drei mal 50 Prozent bei 750 Tonnen Förderleistung pro Stunde.
  • Auch die beiden neueren Blöcke hatten je drei Kondensationsbeckenpumpen mit gleicher Kapazität wie die Notspeisewasserpumpen.
  • Anlagen zur zusätzlichen Dosierung von Neutronengiften (Absorbern)
  • Jeder Reaktor war in einem gasdichten Behälter aus Stahlblech eingesetzt. Dieser wurde zur Vermeidung von Korrosionen mit Heliumgas gespült. Helium hat die Eigenschaft, durch Neutronen nicht aktiviert zu werden. Es besitzt ein hohes Durchdringungsvermögen durch poröse oder undichte Oberflächen. Dadurch lässt sich die Dichtheit des Reaktortanks ständig messen. Ein Anstieg der Radioaktivität im Heliumsystem würde zudem die innere Leckage eines Brennelementkanals anzeigen.
  • Das Reaktorsystem war von einer massiven und gasdichten Betonhülle umschlossen. Diese Konstruktion war weniger stark ausgelegt als ein Containment. Sie sollte aber ebenfalls das Austreten von Radioaktivität in die Umwelt verhindern, falls eine Leckage auftritt.
  • Mit dem elektronischen Rechnersystem SKALA werden zahlreiche Betriebsparameter ständig überwacht. Beim Verfehlen bestimmter Randwerte wird der Reaktor automatisch abgeschaltet.
  • Zur Überspeisung kleinerer Leckagen im Kühlkreislauf existierten Hochdrucktanks. Für die Blöcke eins und zwei war dies je ein System mit sechs Tanks von je 6,8 Kubikmeter Wasser und ebensoviel Treibgas. Für die neueren Blöcke drei und vier bestanden zwei Systeme mit je sechs Wassertanks und einem Tankvolumen von 13 Kubikmeter bei knapp ebensoviel Treibgasvolumen und zirka 95 Bar Überdruck.
  • Ausreichende Notstromanlagen für Steuerung und Nachkühlung waren vorhanden.
  • Umfangreiche Wasservorhaltungen von 3.200 Tonnen pro Block existierten für die Kondensation von Dampf und Druckabbau in Notfällen. Die Wasserreservoirs waren in zwei Kellergeschoßen übereinander angeordnet. Das System sollte den gleichen Zweck erfüllen wie die Kondensationstürme der kleineren WWER-440/213 Reaktoren vom Typ Dukovany oder Mochovce.

 


Verwendete Quellen und Links

  • Forschungsprojekt Energiepolitik, Jürgen Sattari
  • IAEA-Shelter Programm 
  • Strahlentelex

 

 

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